Mitmensch?

Gestern war ich auf der Autobahn unterwegs. Und wie es halt derzeit so auf deutschen Autobahnen zur Normalität geworden ist, bildete sich irgendwann ein Stau. Alle Blechbüchsen kamen zum Stillstand. Ich fuhr sofort nach ganz links zur Mittelleitplanke. Ich blickte nach vorn und hatte freie Sicht die ganze Autobahnleitplanke entlang – vor mir war nichts. Dann begriff ich erst, dass alle Wagen stur auf ihrer Fahrspur standen. Rettungsgasse? Fehlanzeige. „Die ganze Diskussion in der Öffentlichkeit zu diesem Thema – Fehlanzeige“ dachte ich mir.

Gewundert hat es mich aber dann doch nicht Sofort schossen mir diverse Bilder in den Kopf…Bereits dreimal war ich auf der Straße in Not geraten. Und dreimal wurde ich von meinen Mitmenschen im Stich gelassen. Mitmensch – wer hat diesen Begriff eigentlich erfunden?

Mein erster Unfall geschah mit dem Motorrad. Es war ein sonniger Herbstsonntagnachmittag. Ich fuhr mit meinem Motorrad durch die Stadt und genoss die letzten Sonnenstrahlen. In einer Kurve, ich sah den Kies nicht liegen, zog es mir das Vorderrad weg und ich stürzte schlitternd über den Asphalt. Nach ein paar Metern blieb ich liegen, das Motorrad auf mir drauf. Der Körper führt dann irgendwie eine Art Schnelltest durch – alles Systeme werden gecheckt. Leben? Check. Kopf dran? Check. Arme okay? Check. Beine? Negativ.

Nicht nur ich lag da auf der Straße, auch mein Knie lag offen da. Durch mein Helmvisier sah ich aber viele Leute interessiert am Straßenrand stehen. Ich liess mich erst mal sacken und wartete bis Hilfe kam… und wartete, und wartete… Ich öffnete die Augen: die vielen Sonntagsspaziergänger – sie hatten alle einen Bogen um mich gemacht und waren verschwunden.

Es gelang mir nur mit sehr viel Mühe, mein Motorrad aufzurichten. Meine Hose war zerrissen, das Blut lief mir am Schienbein hinunter. Irgendwie gelang es mir dann doch, mich noch ein paar hundert Meter zu meiner Freundin zu schleppen. Da wurde mir dann geholfen.

Das zweite Erlebnis war noch ein bisschen krasser. Ich fuhr mit meinem kleinen Sportwagen morgens zur Arbeit, als unterwegs ein Busfahrer plötzlich die Kontrolle über sein riesiges Vehikel verlor und einmal schräg komplett über mich drüber fuhr. Es gelang mir im letzten Moment mich wegzuducken. Berstendes Metall und splitterndes Glas verursachten einen Geräuschmix, den ich wohl nie mehr vergessen werde. Im Rücken spürte ich irgendwie das Dach meines Autos auf mich eindrücken. Zum Glück sprengte es regelrecht die Fahrertür weg. Durch das entstandene Loch konnte ich dann ins Freie kriechen.

Währenddessen vernahm ich ein zunächst undefinierbares Geräusch… War es ein Krankenwagen? Polizei? Nein, es waren die anderen Autofahrer, die hupten, weil sie an der Unfallstelle nicht vorbeikamen. ich saß neben meinem Auto und verlor den Glauben an die Menschheit. Menschheit – da war wieder dieses sarkastisch klingende Wort.

Über mein drittes Erlebnis schrieb ich sogar ein Buch. In NEUSTART – EIN HERZINFARKT KANN DAS ENDE SEIN ODER DER ANFANG schildere ich meinen Herzinfarkt auf der Autobahn. Ich beschreibe wie ich mich zu einer Bushaltestelle retten konnte und dort dann aus dem Auto auf die Straße sackte… Berufsverkehr. Niemand hilft. Niemand. „Fuck You Menschheit!“

Es gab Zeiten, da fragte ich mich: „Warum ist das so?“ Inzwischen habe ich für mich meine Antwort… Wir sind Menschen. Und Menschen sind nunmal verschieden. Die einen haben vielleicht Angst zu helfen. Die anderen haben keine Lust. Manch einer hat es vielleicht einfach nicht geschnallt (vielleicht ging mir das selbst schon so?). Wiederum andere sind schlichtweg ignorante … hm, Ihr wisst was ich meine. Und dann gibt es einen großen Teil mit wenig Humus im Kopf. 

Natürlich auch viele Menschen, die ich bereits. Menschen denen das Wohl der anderen nicht egal. Ich hatte halt dreimal das Pech, dass keiner unter den Beteiligten war, der wenigstens ein bisschen Herz oder Mut hatte.

In allen drei Fällen hätte eine einfache Geste gereicht: Beim Motorradunfall hätte man mir nur aufhelfen müssen. Beim Autounfall hätte man nur die Polizei rufen müssen und bei meinem Herzinfarkt hätte es gereicht, wenn jemand den Notarzt gerufen hätte und denen mitgeteilt hätte, wo ich mich befinde (denn ich wußte es nicht).

Ob ich die Menschen verurteile oder möchte dass so etwas verurteilt wird?

Nein, das muss es nicht. Jeder von ihnen wird sich irgendwann ebenfalls in einer Situation befinden, die Hilfe erfordert. Ich wünsche ihnen, dass sie die notwendige Hilfe erhalten. Wahrscheinlicher ist, dass auch sie von ihren „Mitmenschen“ ebenfalls allein gelassen werden.

Oliver 2.0

11 Kommentare zu „Mitmensch?

  1. Hi Oliver,
    Du triffst den Nagel auf den Kopf, oft werden wir von den sogenannten „Mitmenschen“ im Stich gelassen bzw. ignoriert. Diese Tatsache ist sehr ernüchternd.
    Umso toller ist es, zu wissen, dass es auch tolle Menschen gibt, die einem bedingungslos helfen und zur Seite stehen… FREUNDE…

    Gefällt 2 Personen

  2. Rettungsgasse ist scheinbar immer noch nicht in allen Köpfen angekommen.
    Ganz furchtbar finde ich auch den Fall des alten Mannes vorm Bankautomaten, über den die anderen Menschen einfach drüber gestiegen sind.
    Da kann man bloss hoffen, dass man selber niemals in Not kommt.
    LG sk

    Gefällt 1 Person

  3. ist mir auch schon passiert dass man mich hat liegenlassen auf der Strasse, ich konnte nicht mehr aufstehen, hatte einen Trümmerbruch im Fuss der später operiert wurde. ist jetzt schon 9 Jahre her, aber ich habs immer noch im Kopf. viele sind vorbeigefahren und haben zur seite geschaut. eine junge frau hat mir dann geholfen und mich in ihr auto geladen. ich hatte ja noch den Hund bei mir. ein traumatisches Erlebnis war das.

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  4. Das ist der Hammer, ja das passiert leider immer wieder, es gibt wenige die hilfsbereit sind ,die schlimmsten sind die Gaffer
    die das dann mit ihrem Handy noch bildlich festhalten. Du hattest einfach Glück. Schicksal oder Schutzengel?
    Meine Freundin ging einfach nur über die Fahrbahn und brach zusammen es riss ihr das rechte Bein weg akuter Bandscheibenvorfall.
    Der Verkehr lief munter weiter, man fuhr einfach um sie herum. Sie kroch auf allen Vieren bis beherzte Passanten ihr halfen und 110 riefen.
    Ich wünsche keinem solche Erfahrungen machen zu müssen in einer Notlage ,in die ja Jeder von uns kommen kann.
    Achte auf Dich ..Sternchen

    Gefällt 1 Person

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