Jede Nacht.

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Zeit spielt für ihn keine Rolle mehr. Vielleicht ist es zwei Uhr, vielleicht auch schon später.
Langsam lässt er sich an ihrer Bettkante nieder. So wie jede Nacht sitzt er neben ihrem schlafenden Körper und betrachtet sie. Er streicht ihr durch das grau gewordene Haar ohne dass sie je Notiz davon nehmen würde.
Er beobachtet aufmerksam wie sie atmet, wie sich ihr Brustkorb dabei langsam hebt um dann wieder in sich zusammenzufallen. Im fahlen Licht des Mondes erscheint ihr Haar wie feingewebte Silberfäden, die in der Nachtluft funkeln obwohl das Licht des Vollmondes nur gedämpft durch die Vorhänge am Fenster drängt. Auch sein lockig gewelltes Haar war längst grau geworden. Er trug es seit seiner Jungend lang und so fiel es auch in dieser Nacht wellig über seine Schultern und verdeckten so die hervorstehenden Knochen, welche nur mit dünner Haut überzogen waren.

Jede Nacht erinnert er sich, wie es war, als er fortging…
Er lag damals im Bett neben ihr als er plötzlich aufwachte weil er keine Luft mehr bekam. Er wollte nach ihr schreien, aber da war es auch schon vorbei. Der Schmerz war sofort wieder weg. Er fasste sich kurz an die Brust und rang nach Luft, stand auf und ging nervös im Zimmer umher. Schließlich setzte er sich auf die Bettkante neben sie und streichelte ihr sanft über die Schulter. Sie waren beide schon sehr alt. Das Leben hatte auch ihr ins Gesicht geschrieben. Vorsichtig strich er ihr mit seinen knochigen Fingern über die weiche Haut. Ihre Falten waren schön gezeichnet. Wie ein Kunstwerk, zart skizziert mit einem feinen Bleistift.
Vor lauter Bewunderung für ihr Antlitz fiel ihm jetzt erst der Körper im Bett neben ihr auf. Er erschrak fürchterlich. Langsam beugte er sich nach vorn und versuchte im Dunkeln Umrisse zu erkennen.

Nie wird er diesen Augenblick vergessen, als er sich selbst erblickte. Der Mund seines Körpers stand offen, die Augen waren geschlossen.
Er schreckte hoch und wich an die Schlafzimmerwand zurück. Was für ein Schabernack treibt das Leben nun mit ihm? Verzweifelt krallte er sich mit den Händen in sein gelocktes Haar. Er konnte es nicht fassen was geschehen war. Plötzlich wachte auch sie auf…
Nie wird er ihren Schmerz vergessen, der ihr durch den Körper fuhr, nie ihr Wimmern und ihr Weinen, als sie seinen toten Körper im Bett entdeckte. Sie schluchzte unaufhörlich bis irgendwann das Morgenlicht das Zimmer flutete. Er bekam nicht mehr mit wie der Arzt ihr sein Beileid ausdrückte und sie ihn hinaustrugen.

Manchmal spricht sie im Schlaf… sie träumt. Oft hört er seinen Namen, wenn auch undeutlich. Dann nimmt er wieder ihre Hand und verweilt so lange, bis das Tageslicht ihr silbernes Haar wieder in ein Grau verwandelt.
Wenn sie dann aufwacht, wird er wieder weg sein… so wie jede Nacht.

Bricht die nächste Dunkelheit an, wird er aber wieder an ihrem Bett sein und ihre Hand halten. – „Mit ihr gemeinsam aufstehen und zusammen den Raum verlassen.. für immer. Zusammen mit ihr dann ans Meer gehen, dorthin wo sie gemeinsam aufwuchsen und sich kennenlernten..“ – Davon träumt er und darauf wartet er… jede Nacht.

Oliver 2.0

14 Kommentare zu „Jede Nacht.

  1. Hallo Oliver,
    um meine Anonymität zu bewahren, musste ich ohne Vorwarnung umziehen und meinen Namen ändern. Vielleicht möchtest du mir wieder folgen? Webseitelink findest du in meinem Profil.

    Deine Geschichte empfinde ich als sehr romantisch: Liebe bis in den Tod hinaus…
    Liebe Grüße

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